Morgens um vier gehen alle Lichter aus, und es wird stockdunkel in der ganzen Stadt. Eine gespannte Stille breitet sich aus. Doch plötzlich hört man lautes Trommeln und Pfeifen, und mit dem Trommeln und Pfeifen tauchen Lichter auf: Trommler und Piccoloflöten-Spieler ziehen mit kleinen Laternen durch die Stadt. Riesige Köpfe mit eindrucksvollen Masken (Larven genannt) sind im vagen Licht der Laternen zu erkennen. Die Stimmung ist eine eigenartige Mischung aus Lebensfreude und Melancholie, aus Totentanz und Mummenschanz.
Viele Menschen kommen jedes Jahr zur Fastnacht in der schweizerischen Stadt Basel, um diesen „Basler Morgenstreich“ mitzuerleben. In Basel ist am Aschermittwoch nicht alles vorbei. Die Basler Fastnacht beginnt erst am Montag nach Aschermittwoch, wenn in anderen Gegenden die Narren längst verschwunden sind und die stille Fastenzeit begonnen hat.Was dahinter steckt?
Anders als heute war im Mittelalter die christliche Fastenzeit obligatorisch. Das strenge Fastengebot wurde 1091 von der Synode von Benevent jedoch abgemildert: An den Sonntagen durfte das Fasten nun unterbrochen werden. Weil aber trotzdem vierzig Tage lang gefastet werden sollte, wurde der Beginn der Fastenzeit um sechs Tage vorverlegt: Auf den heutigen Aschermittwoch. Doch nicht alle machten mit. Und so kommt es, dass in Basel auch heute noch die „Fastnacht“, also die Nacht vor Beginn der Fastenzeit, später stattfindet als anderswo.
Weil ich in Südbaden aufgewachsen bin, sind mir die Hexen- und Teufelsfratzen, die wilden Tiere, Figuren und Masken der alemannischen Fastnacht seit meiner Kindheit vertraut. Trotzdem hatte ich als Kind oft Angst vor den Hexen, die mit ihren furchterregenden Masken, mit großen Besen und wildem Geschrei durch unser Dorf rannten. Beim Basler Morgenstreich geht es stiller und melancholischer zu: Die Larven wirken wie Traumwesen aus einer anderen Welt. Lange, riesige Nasen, spitze Gesichter, traurige Augen und ein sehnsüchtiger Blick oder riesige Ohren, Knollennasen und ein verschmitztes Grinsen. Ich bin beeindruckt von den Emotionen, die diese starren Masken ausdrücken können. Manchmal können Masken wohl tatsächlich mehr zeigen als unverhüllte Gesichter.
Ich glaube, viele von uns tragen oft unsichtbare Masken. Ich auch. Ein freundliches, interessiertes Lächeln, wenn ich eigentlich meine Ruhe haben will. Das coole Lachen eines Profis wenn ich tatsächlich ziemlich verunsichert bin. Und manchmal signalisiere ich Zustimmung, wenn in mir schon der Ärger brodelt. Wie viele andere wahrscheinlich auch, habe ich schon schlechte Erfahrungen gemacht, wenn ich meine wahren Gefühle offen zeigte. Man wird immer wieder verletzt. Man wird – im wahrsten Sinne des Wortes – bloßgestellt. Deshalb brauchen wir Masken auch außerhalb der närrischen Zeit.
Am Aschermittwoch allerdings, wenn – zumindest bei uns – der Fasching vorbei ist, dürfen wir für eine Weile die Masken abnehmen und uns verletzlich zeigen. Denn dann beginnt in der Kirche die Passionszeit: Gott selbst zeigt sich wehrlos und verletzlich. Wenn wir uns Jesu Verspottung, sein Leiden und seine Wunden vergegenwärtigen, dann können wir spüren, dass er uns ganz nah ist. Wir dürfen ihm unser wahres Gesicht zeigen. Auch dann, wenn wir uns schwach, schuldig und besonders verletzlich fühlen oder wenn wir uns nicht einmal mehr selbst anschauen können. Denn Jesus ist ja genauso schwach und verletzlich und nimmt alle Schuld auf sich. Er blickt liebevoll hinter unsere Masken, ihm können wir vertrauen.
Ich wünsche Ihnen, dass Sie mit Gott solche Erfahrungen machen, und dass es auch immer wieder Menschen gibt, denen Sie Ihr wahres Gesicht zeigen können.
Ihre Pfarrerin Elke Soellner