Fremd?

Letztens in einem Café am Münchner Hauptbahnhof. Ich trinke etwas, um die Zeit bis zur Abfahrt meines Zuges zu überbrücken. Großmutter und Mutter in Begleitung von zwei kleinen Kindern kommen herein. Erst unterhalten sie sich mit einer Angestellten des Cafés, die sie anscheinend gut kennen. Die Großmutter ist klein und rund, schaut so aus wie ich mir eine anatolische Bauersfrau vorstelle, weite Gewänder in gedeckten Farben, ein Kopftuch. Ich rücke etwas zur Seite, um der Familie Platz zu machen. Ich komme mit ihnen ins Gespräch. Nicht nur die junge Frau spricht deutsch wie eine Muttersprachlerin, ebenso ihre Mutter. Ich ertappe mich bei dem Vorurteil, dass ich damit gar nicht gerechnet habe. Vermutlich ist bereits die Großmutter in Deutschland aufgewachsen. Als Kind eines „Gastarbeiters“, wie man beschönigend die Menschen genannt hat, die man vor 60 Jahren angeworben hat in Europas Süden. Die aufstrebende Industrie in Deutschland brauchte dringend Arbeitskräfte. Doch diese türkische Familie sind nicht „Gäste“ in Deutschland, sondern meine Mitbürger*innen.
Nun lebt diese Familie schon mehr als 50 Jahre in Deutschland. Deutschland ist ihre Heimat, aber es ist selbstverständlich, dass die Oma mit den Enkeln türkisch redet. Das ist ihre Muttersprache. Meine Tochter lebt seit ihrem Studium in Irland. Ihr Sohn, mein ältester Enkel, wächst zweisprachig auf. Ich würde es sehr begrüßen, wenn er das Deutsch weiterspricht, z.B. mit den Kindern, die er vielleicht mal hat. Das Deutsch ist ein Bindeglied zu seinen Angehörigen und Vorfahren in Deutschland und zur deutschen Kultur. Vermutlich wird er sich damit schwerer tun als jene türkische Familie. Sie hat einen großen Familienkreis in Deutschland. Die Angestellte, mit der sie anfangs geredet haben, ist eine Cousine der jungen Frau.
Vom Pasinger Krankenhaus aus, in dem ich 12 Jahre lang als Pfarrerin tätig gewesen bin, habe ich auf zwei Kirchen und eine Moschee geschaut. Seit 1999 gehört sie zum Pasinger Stadtbild. Deutschland hat viele Menschen muslimischen Glaubens ins Land geholt als Arbeitskräfte. Wir tun gut daran zu akzeptieren, dass diese Menschen anders glauben als wir. Schon in der Bibel finden wir die Aufforderung: Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland. Ich bin der HERR, euer Gott. (Lev 19,22f)
Über zweitausend Jahre ist diese Aufforderung alt. Schon damals war es nicht selbstverständlich Fremde so gut zu behandeln wie die Einheimischen. Heute fällt es vielen von uns schwer, dass in unserem Land so viel mehr Menschen als früher Fremde sind – aus fernen Ländern, mit anderen Sprachen, ihrer eigenen Kultur und Religion. Es schürt die Angst, wenn bei den grausigen Attentaten der letzten Jahre immer wieder einmal ein Mann mit Migrationshintergrund der Täter gewesen ist. In der Angst werden wir kurzsichtig – sehen nur noch die Täter, aber nicht seine Landleute. Die allermeisten von ihnen setzen ihre Energie daran, sich in Deutschland ein Leben aufzubauen – durch den Erwerb der Sprache, durch den Besuch von Integrationskursen, durch Anpassung an die gesellschaftlichen Gegebenheiten. Sie können uns sehr gut gebrauchen. Menschen, die auf die Bibel hören. Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst. Erinnere dich daran, wie oft du schon als Fremde dich in neuen Umständen hast zurechtfinden müssen.

Ihre Pfarrerin Elke Eilert